Der große Anpfiff
Von Susanne Rost
Es ist kurz vor zwölf Uhr an diesem 28. November, als Reiner Schorstein zum ersten Mal seines Amtes waltet. Der ganz in Weiß gekleidete Kampfrichter steht am Rand des Wasserbeckens der Schwimmhalle auf der Fischerinsel, er setzt die Pfeife an den Mund, ein lauter Pfiff gellt durch das frisch sanierte Bad. Es ist der erste Pfiff von vielleicht hundert oder zweihundert, die Reiner Schorstein an diesem Tag über die Lippen gehen. Doch bei keinem anderen klettern so viele Menschen aus dem Wasser wie bei diesem ersten: Hundert Sportler haben sich da gerade in dem Becken warm gemacht, haben eine letzte Rollwende geübt oder haben den Sitz ihrer Schwimmbrille beim Startsprung getestet.
Ursprünglich wollten sogar rund 150 Mädchen und Jungen, Männer und Frauen bei diesen ersten gemeinsamen Vereinsmeisterschaften von BSSC Germania 1887, BSV von 1878 und SC Welle an den Start gehen; doch einige mussten krankheitsbedingt absagen.
Hustenpastillen liegen auf den Tischen unweit des Bademeister-Kabuffs. Dort sitzt zum einen Uwe Ohlenroth, der Vorsitzende des BSV 1878, dem ältesten deutschen Schwimmverein. Er ist es auch, der den Wettkampf um zwölf Uhr offiziell eröffnet. Neben ihm hat Uta Rosenkranz Platz genommen. Normalerweise ist sie Trainerin bei Germania, doch an diesem Tag ist sie die Frau von der Meldestelle. Ihr Tisch ist den ganzen Tag umringt von kleinen und großen Schwimmern, die aufgeregt schnatternd auf ihre Einteilung und ihren Wettkampfzettel warten: Lauf 1 Bahn 4? Oder doch Lauf 2 Bahn 3?
Den Anfang machen die Jungs, die 25 Meter mit Schwimmbrett und kräftigen Brust-Beinschlag zurücklegen. Die jüngsten Starter sind gerade mal fünf Jahre alt, die Ältesten Mitte fünfzig.
Ob groß, ob klein: Nervös sind fast alle. "Ich dachte, es gibt keinen Druck. Aber jetzt bin ich doch aufgeregt", sagt Antoine Mazy, als er am Meldestellen-Tisch auf seinen Aufruf wartet. Der 30-Jährige gehört zu den Masters des SC Welle. "Jede Zeit ist gut, die besser ist als die vom vergangenen Jahr", sagt er auf dem Weg zum Startblock. Bernhard Meyer, ebenfalls von den SC-Welle-Masters, verfolgt eine andere Taktik: "Das ist mein total erster Wettkampf. Ich definiere hier meine Ausgangszeiten. Ich werde mich bemühen, möglichst langsam zu schwimmen, damit ich in Zukunft noch Steigerungsmöglichkeiten habe." Möglicherweise ist der Kreuzberger dann doch ein wenig außer Puste, als er nach 50 Meter Freistil am Beckenrand anschlägt - aber das braucht hier nicht erörtert werden.
Ganz gelassen steht derweil die kleine Meret am Beckenrand. Ihre Anstrengung ist vergessen, ihre Aufregung verflogen: 25 Meter Brust Beine mit Schwimmbrett ist sie ein paar Minuten zuvor geschwommen, und das ganze 20 Sekunden schneller als ihr Trainer angenommen hat. "Das freut mich, dass ich so schnell gewesen bin", erzählt die Sechsjährige, die seit den Sommerferien bei Germania Mitglied ist. Mindestens genauso stolz ist ihre Mutter Dörte, die wegen der Meisterschaften den Samstag in der Schwimmhalle verbringt. Aber vor dem ersten Start sei sie auch mindestens genauso aufgeregt gewesen wie ihre Tochter, berichtet sie. Jetzt wirken beide ganz entspannt, bis zum nächsten Wettbewerb ist noch ein bisschen Zeit; Mutter, Tochter und Sohn Sorin vergnügen sich am Kinderbecken.
Die Liegestühle ringsum sind belegt, überall sitzen kleine oder große Sportler mit dicken Taschen, kunterbunten Handtüchern - und mehr oder weniger zweckmäßigem Proviant: Bananen, Äpfel und Müsliriegel werden ausgepackt, aber auch Trockenobst, Traubenzucker und Kuchen; bei vielen Kindern sind die Eltern mitgekommen. So manch' einer hat sich sicherheitshalber einen eigenen Klappstuhl mitgebracht. Andere, die vielleicht früher selbst mal Wettkämpfe geschwommen sind, machen sich nützlich - und stehen als Kampfrichter an den Startblöcken, nehmen den Sportlern die Wettkampfzettel ab, drücken die Stoppuhr und notieren die gemessenen Zeiten.
Um Sekunden geht es auch auf den Zetteln, die an den Fenstern am Kinderbecken hängen. Schwarz auf Weiß steht darauf, welche Schwimmer bei welchem Wettbewerb an den Start gehen, für welchen Verein sie schwimmen und wie schnell sie die bewusste Strecke zuletzt zurücklegten. Es dauert nicht lange, da gesellen sich Ergebnislisten dazu. Marc Domke heißt der erste Sieger des Tages, viele weitere Champions folgen. Im Laufe des Tages schlendern immer wieder Leute zu den Zetteln an den Fenstern, fahren mit Fingern die Zeilen entlang, suchen die Namen ihrer Kinder oder ihre eigenen.
Es ist gegen 14 Uhr, als Uwe Ohlenroth, der BSV-Vorsitzende, zur ersten Siegerehrung des Tages ruft. Leuchtend orangerot sind die Urkunden, die er an seinem Platz verteilt. Wieder ist der Tisch umringt von vielen, vielen Kindern. Mittendrin steht der Fotograf Matthias Krüger. Das Objektiv seiner Kamera richtet sich auf die gespannt guckenden Mädchen und Jungen, die sich den Siegerpapieren entgegen recken. Ein Mädchen läuft mit zwei Urkunden zu einem Mann in Badehose. "Da, Papa", sagt die Kleine, "zwei Mal Erste". Natürlich ist der Vater stolz.
Doch nicht nur Papas haben an diesem Tag Grund zur Freude, auch die Trainer. "Super zufrieden" sei er, sagt beispielsweise Olaf-Carsten Weiss. Der Kreuzberger ist der Sportwart des SC Welle und trainiert die "Forellen", die Gruppe der Sieben- bis Zehnjährigen. "Alle sind heute schneller geschwommen als beim letzten Test. Das ist toll", sagt er. Dann muss er weg, zu seinem eigenem Start als Master, schnell noch die blau-weiße Badekappe übergestreift.
Seine Tochter Lilly steht am Beckenrand und feuert ihn im Rhythmus seiner Armzüge an, ebenso die Freunde aus seiner Schwimmgruppe, die bei den 50-Meter-Rücken nicht an den Start gehen. Wojciech Michalczyk, einer der Trainer der SC-Welle-Masters, schwingt sein rotes, jaulendes Plastikrohr. Wojtek, wie er genannt wird, hat noch mehr Unterstützung für seine Wettkämpfer mitgebracht: Magnesium-Tabletten, Mineralwasser und Becher. Damit nicht noch irgendwelche Krämpfe bei den Sprints dazwischenfunken. Was dann auch nicht passiert, bei keinem.
Draußen vor den Fenstern finden sich derweil die einen oder anderen Zaungäste ein; beispielsweise Schwimmkameraden, die sich nicht den halben Samstag von anderen Verpflichtungen freimachen konnten, die aber trotzdem gerne einen Blick auf die Wettkampftruppe werfen wollen. Oder Angehörige und Freunde, die noch rasch seelisch-moralischen Beistand leisten wollen. Oder die vielleicht auch nur ein bisschen neugierig sind.
Aus vollem Hals unterstützt wird unterdessen der tüchtige Kraulschwimmer auf Bahn 2. Drei Mädchen stehen am Beckenrand und rufen seinen Namen: "Jas-in, Jas-in, Jas-in!". Der zehn Jahre alte Junge aus Kreuzberg liegt knapp vor seinen Konkurrenten; den Lauf zuvor hat er gewonnen. Jasin hat schon ein wenig Erfahrung mit Wettkämpfen, erzählt er wenig später, vier Mal sei er schon an den Start gegangen, es macht ihm Spaß, er möchte noch öfter bei Wettbewerben antreten. Und er hat einen Traum: Rettungsschwimmer will er werden.
Maike ist das schon. Die Elfjährige sitzt auf der Steinbank am Fenster, gleich neben den Ergebnislisten. Sie trägt einen der Schwimmanzüge, die bald bei Wettkämpfen nicht mehr erlaubt sein werden, ihr Vorname steht seitlich auf ihrer dunklen Badekappe.
Das Equipment verrät: Das Mädchen aus Steglitz ist mehr Profi als die meisten anderen hier. "Wettkampfsportler" steht hinter ihrem Namen auf den Listen am Fenster. Knapp zehn Schwimmer werden unter dieser Bezeichnung geführt, "Schwimmanfänger" oder "Seepferdchen" sind häufiger vertreten, sie tragen dann auch schon mal quietschgelbe Schwimmbrillen und rosa Badekappen mit pinkfarbenen Seeungeheuern darauf.
Mit der Mannschaft sei sie Landes-Meisterin im Rettungsschwimmen geworden, erzählt Maike, und bei den Deutschen Meisterschaften der Rettungsschwimmer gehe sie für Berlin an den Start. Doch an diesem Samstag muss sie nicht unter Beweis stellen, dass sie Bewusstlose abschleppen kann oder eine Herz-Lungen-Wiederbelebung hinkriegt. Es genügt bloßes Schwimmen. Gleich sechs Mal geht Maike an diesem Tag für Germania an den Start, häufiger als die meisten anderen Sportler hier. "Bei langen Wartezeiten steigt die Nervosität wieder. Da schwimme ich lieber ein bisschen mehr", sagt Maike. Ihre Mutter Susanne ist meistens dabei, wenn sie alle paar Wochen bei Wettkämpfen startet. "Organisatorisch funktioniert das hier gut", lobt sie. Kurz darauf ruft auch schon der letzte Wettlauf, die 100 Meter Lagen der Frauen.
Maike gewinnt den Wettbewerb in ihrer Altersklasse, dem Jahrgang 1998; letzte Siegerin des Tages wird, in der Altersklasse 1989 und älter, Julie Wegner von den SC-Welle-Masters. Da liegt der erste Pfiff des Reiner Schorstein viereinhalb Stunden zurück.
Und hier findet ihr alle Ergebnisse der 27 Wettkämpfe auf einen Blick.